Mit seiner stattlichen Erscheinung wurde der Tiger bereits zu Anfang der Weltschöpfung zum König des Tierreichs gekrönt. Alle Tiere unterwarfen sich seiner Autorität und seinen Befehlen. Wenn sie ihm begegneten, wagten sie nicht, ihm direkt in die Augen zu sehen. Am besten wichen sie ihm gleich aus, wenn sie von seiner Ankunft hörten.

Die Machtposition als Herrscher im Tierreich verlieh dem Tiger selbstverständlich ein übermäßig eitles Gefühl. Aber nach einiger Zeit fühlte er sich auch ganz allein und einsam, da er keine vertrauenswürdigen und engen Freunde hatte. Nur mit einem Nachbarn vertrug er sich ganz gut. Das war der kluge und schlaue Affe. Der Affe verehrte den Tiger als seinen „großen Bruder“, und der Tiger nannte den Affen seinen „kleinen Bruder“. Somit entstand ein inniges Verhältnis zwischen den beiden.

Im Laufe der Zeit wurde der Affe ein tüchtiger Helfer vom Tiger. Wenn der Tigerkönig etwas außerhalb seines Territoriums zu erledigen hatte, übertrug er dem Affen seine Arbeit. Die anderen Tiere, die sowohl Respekt als auch Angst vor dem Tiger hatten, konnten nur den Willen des Tigers befolgen und auf den Affen hören. Somit entstand das chinesische Sprichwort: Wenn der Tiger nicht da ist, ist der Affe der Herr des Hauses.

Eines Tages fiel der Tiger aus Versehen in ein vom Jäger aufgestelltes Netz und konnte sich nicht befreien, wie sehr er sich auch bemühte. Als er schon ganz verzweifelt war, kam der Affe wie ein Heilsbringer.

„Hilfe! Hilfe!“, rief der Tiger laut und hoffnungsvoll.

Der Affe war überrascht, als er den gebieterischen Tiger im Netz sah. Aber er erlangte schnell seine Fassung wieder und versuchte, seinen König zu beruhigen. „Keine Panik, mein großer Bruder. Ich komme sofort.“

Ohne zu zögern stieg der bewegliche Affe auf den Baum und löste geschickt das Netz. Der Tigerkönig war gerettet.

Als der Tiger endlich wieder die Freiheit genießen konnte, war er seinem Nachbarn und zugleich Retter unheimlich dankbar. Er bedankte sich tausendmal bei ihm für seine heldenhafte Tat. Zugleich drängten sich ihm große Sorgen auf: „Würde der Affe sein Maul halten können? Was würde passieren, wenn er überall diese Geschichte erzählte? Erführen die anderen davon, würden sie mich nicht mehr ernstnehmen, da verlöre ich mein Gesicht!“

Der gerade gerettete Tigerkönig wurde wieder von Sorgen geplagt. „Vielleicht sollte ich ihn einfach umbringen und dann würde es für immer geheim gehalten“, dachte er sich.  

Er warf einen Blick auf den Affen, der ihm zulächelte und mit den Augen freundlich zwinkerte. „Unmöglich! Wie konnte ich auf diesen undankbaren Gedanken kommen?“ Der König schlug sich diese Idee gleich aus dem Kopf und wollte sie wiedergutmachen. Er beschloss aber, zuerst ein ernsthaftes Gespräch mit dem Affen zu führen.

„Sag mal, mein Freund, kann ich mich auf dich verlassen, dass dieser Vorfall unter uns bleibt?“, fragte er, sich über den kleinen Affen beugend, und sah ihm eindringlich in die Augen.

„Oh, was für eine Frage! Das ist doch gar nicht erwähnenswert“, sagte der Affe.

„Schwörst du bei Gott?“, wollte der Tiger sich noch mal versichern.

„Ja, ich schwöre.  Du hast mein Ehrenwort“, sagte der Affe. Er war doch bereit, seinem König einen Gefallen zu tun.

„Das glaube ich dir gern, mein Freund. Und du kannst auf meine Freundschaft vertrauen. Gerätst du einmal in Schwierigkeiten, werde ich mich für dich einsetzen“, sicherte der Tiger dem Affen zu.

„Danke sehr, mein großer Bruder. Das ehrt mich sehr“, antwortete der Affe ehrfurchtsvoll. 

Seitdem bestand ein stillschweigendes Einverständnis zwischen den Beiden. Keiner erwähnte ein Wort über das Unglück, aber es lastete immer wie ein Schatten auf der Freundschaft zwischen den beiden.

Viele Jahre später wollte der Jadekaiser die „Shengxiao“-Versammlung abhalten. Der Tigerkönig, der Herr aller Tiere, wurde selbstverständlich als ein „Shengxiao“-Tier ausgewählt. Daraufhin wurde der Affe neidisch, der auch ins „Shengxiao“-System aufgenommen werden wollte. Er wusste zugleich aber auch, dass er es nicht verdient hatte, da er keinen besonderen Beitrag zum menschlichen Leben geleistet hatte. Darum war er beim Tiger zu Besuch, um ihn um Hilfe zu bitten.

„Mein lieber großer Bruder, du hast es aber gut. Ich habe gehört, dass du als ,Shengxiao‘-Tier aufgenommen wirst. Gratuliere!“

„Vielen Dank, mein lieber kleiner Bruder. Und wie geht es dir denn?“, fragte der Tigerkönig.

„Nicht schlecht. Aber ich sorge mich darum, dass du ohne mich im ,Shengxiao‘-System weder Helfer noch Freund hast. Eigentlich will ich dich gerne begleiten, aber einige Kriterien kann ich nicht erfüllen.“ Dabei seufzte der Affe.

„Ach so. Das tut mir aber leid“, sagte der Tiger ungerührt.

„Soviel ich weiß, bist du doch ein Günstling des Jade-Kaisers. Vielleicht kannst du bei ihm ein gutes Wort für mich einlegen?“

Der Affe warf einen freundlichen Blick auf ihn, lächelte und zwinkerte mit den Augen, was dem Tiger doch bekannt vorkam. Es leuchtete ihm ein, dass es jetzt an der Zeit war, sich beim Affen zu revanchieren.

Der Tiger machte sich sogleich auf den Weg und stattete dem Jadekaiser einen Besuch ab. Er erzählte dem Jadekaiser, wie intelligent der Affe war und welche Aufgaben der kleine Affe in seiner Abwesenheit erfüllte. Der Kaiser meinte: „Wenn der Tigerkönig in dem kleinen Affen einen großartigen Helfer sieht, könnte er doch auch ein tüchtiges Wesen sein.“ Nach reiflicher Überlegung erließ der Kaiser endlich ein Dekret, das vorsah, den Affen ins „Shengxiao“-System aufzunehmen.

Der Tiger half dem Affen, seinen Wunsch zu erfüllen, womit seine Schuld ihm gegenüber auch getilgt wurde. Er wurde nur etwas böse, da der Affe sich seitdem Seite an Seite mit ihm im „Shengxiao“-System befand. Deshalb entfremdete sich der Tiger vom Affen allmählich und die Freundschaft zwischen den Beiden ging zu Ende.

Heute haben die Tiere keine Angst mehr vor dem Affen und das Sprichwort - „Wenn der Tiger nicht da ist, ist der Affe der Herr des Hauses“ - hat einen Beigeschmack von Ironie.