Endlich bin ich hier. Nach vielen Jahren kehre ich in mein Heimatland zurück und steige in diesen Zug ein, um einen lang gehegten Wunsch – sowohl von mir als auch von meiner Mutter – zu erfüllen. Zuvor konnte ich mir diese Stadt nur vorstellen, indem ich mir die alten Fotos ansah, die meine Mutter vor 17 Jahren fotografiert hatte.

Im Jahr 2020 betrat meine Mutter zum ersten Mal als Krankenschwester diese Stadt, um Wuhan bei der Bekämpfung des Corona-Virus zu unterstützen. Da war ich erst zwei Jahre alt. Ich kann mich noch daran erinnern, dass sie zum Abschied weinte und mich flüchtig auf die Wange küsste. Zum Glück kehrte sie gesund zurück. Und sie hat diese Fotos und viele Geschichten mitgebracht. Im Laufe der Jahre habe ich mir tausende Male diese Fotos angeschaut und hunderte Male diese Geschichten angehört. Wann könnten wir nach Wuhan gehen, fragte ich jedes Mal, wenn ich die Geschichte hörte. „Wenn der Frühling kommt. Da blüht überall die schöne Blütenkirsche“, antwortete meine Mutter immer. Aber meine Mutter und ich haben das nicht geschafft. Jetzt, nach 17 Jahren stehe ich endlich hier, aber allein.

Vor einem Jahr ist meine Mutter gestorben. Da kontaktierte mich eine junge Frau. Ich heiße Ying, stellte sie sich vor. Ich erfuhr, dass sie und ihre Familie vor 17 Jahren von meiner Mutter in Wuhan behandelt worden waren. So sind wir allmählich Freundinnen geworden. Vor einem halben Monat sagte sie zu mir, dass die Blütenkirsche blüht. Also bringe ich meine Spiegelreflexkamera mit und steige ins Flugzeug.

Mit der Menschenflut eile ich zum Ausgang Nr. 3. Dort wartet Ying in ihrem roten Mantel auf mich. Der Frühling ist noch kalt und man hat noch die Winterkleidung an. Weil das Wetter nicht schlecht ist, fahren wir mit dem Fahrrad zu dem Zielort, Huoshenshan-Park. Genau an dem Ort wurde 2020 ein Krankenhaus innerhalb von wenigen Tagen gebaut, in dem tausend Patienten, die vom Corona-Virus angesteckt waren, intensiv behandelt wurden. Nun ist er der größte Kirschblütenpark der Stadt. Jedes Jahr im März gehen hunderttausend Touristen dorthin, um Blütenkirsche zu bewundern.

Bald erreichen wir den Park. Am Eingang treffen wir uns mit Yings Familie. Yings Großvater ist schon 80 Jahre alt und kann leider nicht mehr gut gehen. Er sitzt in einem Rollstuhl und ist begeistert, als ich ihn begrüße. Opa wollte dich schon immer sehen, erklärt Ying, weil deine Mutter damals von dir gesprochen hat. „Wir alle hören gerne, wie sie über dich erzählt.“ Er umklammert mich fest. Ich sehe Tränen in seinen Augen. „Deine Augen sehen genau so aus wie die deiner Mutter, so sanft und so stark“, sagen Yings Eltern wiederholend.

Den Wanderweg entlang sind viele Kirschbäume gepflanzt. Wir gehen spazieren und unterhalten uns unter diesen Bäumen, die mit ihren Blüten eine rosarote Wolke über unseren Köpfen ausbreiten. Ein starker Wind weht. Ying zieht ihren Mantel aus und legt ihn auf die Knie ihres Großvaters. Die Blütenblätter fallen auf ihren Kopf und auf ihre Schultern. Ich drücke auf den Auslöser. Es wäre schön, wenn meine Mutter mit eigenen Augen diese Szene sehen könnte! Aber ich bin mir in dem Augenblick ganz sicher, dass sie vor 17 Jahren solche bewegenden Momente auch erlebt hat.

Ich bin endlich hier, wo es in der Vergangenheit einmal viel Jammer gab. Ich bin endlich hier, wo es voller schöner Blütenkirsche ist und alle lächeln. Hier ist Wuhan. Was sehe ich? Wärme, Leben und Vitalität.

Man fragt sich, was diese Epidemie mit sich gebracht hat. Traurigkeit, Wut, Angst und Tod. Aber ich sehe hier die Hoffnung auf Leben, die Einheit der Menschheit, die Ausstrahlung der Liebe und den Respekt vor der Natur.

Bevor wir den Park verlassen, pflücke ich eine Kirschblüte. „Du kannst sie zum Lesezeichen machen“, schlägt Ying vor. Sie lächelt, so schön wie die Blüte. Das ist eine gute Idee. Dann kann ich sie für immer behalten und überallhin mitnehmen. Ich sage im Herzen zu meiner Mutter: „Schau, Mama. Der Frühling ist da und die Blütenkirsche in Wuhan blüht.“

(Verfasserin: Germanistikstudentin des 4. Jahrgangs.)