Auf dem Rückweg denke ich noch an diesen Besuch. Ich habe Anna besucht, denn ich habe von meinen Freundinnen gehört, dass ihr Sohn gestorben ist. Geteilter Schmerz ist halber Schmerz. Wenn sie mir ihr Leid mitgeteilt hat, werde ich sie trösten.

Aber Anna hat nichts gesagt. Es sieht so aus, als ob alles in Ordnung wäre. Ich zerbreche mir das Hirn, um etwas Interessantes zu erzählen, was Anna fröhlich machen kann. Anna hört immer zu. Ich weiß, dass sie nicht aufpasst. Vielleicht erinnert sie sich an ihren gestorbenen Mann oder Sohn.

Ich habe in der Vergangenheit unter Depression gelitten, weil ich vorher unter starkem Druck stand. Nach meiner Krankheit werde ich offener und ich erzähle gerne. Ich kann auch feine Gefühle der anderen wahrnehmen, aber ich tue so, als wüsste ich nichts. Wenn man nichts sagen will, hat man das Recht, Geheimnisse zu haben.

Manchmal habe ich den Eindruck, dass Anna etwas sagen möchte, aber schließlich erzählt sie nichts. Sie kann man nicht zwingen. Vielleicht braucht Anna mehr Zeit und Mut, mir die Wahrheit zu sagen. Trost ist nutzlos, wenn man ihn nicht sucht. Ich schüttle den Kopf und steige aus dem Zug aus.

Vier Tage später höre ich, dass Anna Selbstmord begangen hat.

(Verfasserin: Germanistikstudentin des 3. Jahrgangs)